Das Ende des Jahres kündigt sich mit den Holzhütten des Weihnachtsmarktes in der Leipziger Innenstadt an. Dabei überkommt die Menschen das Gefühl, dringend noch ein paar Dinge kaufen zu müssen. Erfüllung der Träume und Wünsche, ein besseres Leben, lautet die Verheißung. Doch schnell kann es da einem ergehen wie dem jungen Herrn in Stefan Panhans Video «Sieben bis Zehn Millionen».
Der Wunsch nach einem einfachen Leben stellt sich dort schnell ein, wo sich der Mensch durch die Komplexität des Alltags erschlagen fühlt. Scobel spricht in seiner sehenswerten TV-Show sogar von einem neuen gesamtgesellschaftlichen Trend – der Suche nach dem einfachen Leben.
Das Leben ist an vielen Stellen komplex geworden, aber an keiner Stelle wird dies so sichtbar wie in den digitalen Arbeits- und Lernwelten. John Maeda bietet als Autor mit seinen 10 Gesetzen der Einfachheit praktische Hilfe und die Erkenntnis, das die Welt tatsächlich noch Sinn macht. Er tut dies aus der Perspektive des Designers und versteht Design als einen wesentlichen Schlüssel zur Bewältigung anstehender Probleme. (Einen Eindruck von der Person Maedas und eine Einführung zu diesem Thema bietet sein TED-Vortrag «Designing for simplicity»)
Maeda bezieht sich bei seinen Beispielen in «Simplicity» auf die einfache Bedienung eines iPod und damit auf Jonathan Ive, den Senior Vice President of Industrial Design bei Apple. Jony Ive gibt als sein größtes Designer-Vorbild Dieter Rams an. Und tatsächlich besitzen die von ihm gestalteten Apple-Geräte eine Verwandtschaft zu den Braun-Geräten von Rams und zitieren diese. Dieter Rams hat seine Vorstellungen von Design in den «Zehn Thesen für gutes Design» zusammengefasst und endet mit dem Satz «Back to purity, back to simplicity.».
Die meist menschenunwürdige Produktion der Konsumprodukte soll hier nicht näher beleuchtet werden. Doch spielen Fragen nach der Art der Herstellung von Produkten eine wesentliche Rolle schon im Designprozess und drücken dem Produkt einen Stempel auf. Jüngst wurden «einfache Fabriken» von Design BA und MA Studierenden der ECAL/University of Art and Design in Lausanne entwickelten und sehenswert als Low-Tech Factorys in einem Video präsentiert.
ECAL Low-Tech Factory from ECAL on Vimeo.
Gerade das iphone und der iPod von Apple bieten durch ihre einfache Bedienung vielfältige Möglichkeiten, komplexe Zusammenhänge und Vorgänge, einfach zu verarbeiten. Beim Fotografieren mit vordigitalen Techniken lernt man fotochemische, optische und mechanische Zusammenhänge verstehen. Es macht auch Spaß. Aber ist es tatsächlich simpel, einfach? Bieten Apps von Smartphones nicht sogar Laien die Möglichkeit, professionelle Ergebnisse zu erzielen. Handy-Fotografie und Foto-Apps sind längst ein wichtiges Thema geworden und werden im Guardian in zwei Artikeln vorgestellt: Mobile phone photography can fire your imagination und The rise of mobile phone photography.
Die Technik funktioniert also einfach, bleibt nur die Frage nach dem, was fotografiert werden soll. Drei einfache Motive sind das Stilleben, die Landschaft, das Portrait. Und oft sind es die Pioniere der Fotografie die mit ihren Arbeiten in diesen Genres technische und künstlerische Maßstäbe gesetzt haben. Man orientiere sich also – der Einfachheit halber – zuerst bei ihnen: z.B. Nadar (1820–1910), mit seinen Portraits großer Persönlichkeiten (Jules Verne, Sarah Bernhardt , Franz List, Victor Hugo …), deren Wesen er einzufangen vermochte.
Als die ersten Fotografen das Stillleben entdeckten, erbten sie eine lange visuelle Tradition aus der Malerei – Üppige, exotische und dunkle Arrangements, die oft reich an symbolischer Tiefe sind. Hier lohnt der Blick auf eine Ausstellung des britischen National Media Museums in Bradford (bis 10.02.2013): Art of Arrangement: Photography and the Still Life Tradition.
Wo und wie lässt sich Landschaft fotografieren? Am, besten wenn man sich in sie begibt oder gleich in ihr lebt, wie einst Thoreau in seiner Holzhütte am Walden See. Die Sehnsucht der Menschen nach dem freien Leben auf dem Land und in den Wäldern hat der Folk-Musik zur neuen Popularität verholfen. Wie die «Zeit» schreibt, meinen es die «Bowerbirds» ernst mit ihrer Stadtflucht, ihrem Leben in der Natur von North Carolina. Ja die dreifaltige Reinkarnation Henry David Thoreaus wären sie. Das ihnen die selbstgebaute Blockhütte und das Landleben gut tun, hört man in jedem Fall ihrem Folkpop an und erhält einen Eindruck in ihren Videos.
Strahlende Gesichter machen auch Lynx Vilden und ihre Freunde, wenn sie wie die Steinzeitmenschen durch die Wälder streifen.
Wie weit man sich von der Zivilisation löst, oder an welcher Stelle man das Leben vereinfacht bleibt eine Ermessensfrage. Und sie taucht z.B. auf, wenn für die eigenen Kinder der Lebensweg geplant wird. Was brauchen Kinder zum Lernen? Stift und Papier? Oder iPads und Computer? Eltern die es selbst beruflich mit komplexen Dingen zu tun haben, Mitarbeiter der großen Firmen in Silikon Valley (Google, Apple, Yahoo …), setzen auf von Computern weitestgehend freie, also einfachere Formen des Lernens in Waldorfschulen (Kalifornien hat ca. 40 davon). Einer der Waldorfschüler bringt die Vorzüge auf den Punkt:
“You can look back and see how sloppy your handwriting was in first grade. You can’t do that with computers ’cause all the letters are the same, …” Finn Heilig, 10, in: A Silicon Valley School That Doesn’t Compute, By Matt Richtel, NYT, October 22, 2011
Und wenn der Kopf raucht und alles zuviel wird bleibt in jedem Fall der Tipp von Allen Ginsberg: “It’s never too late to do nothing at all!” im Video: Allen Ginsberg with Peter Orlovsky (meditating), Arthur Russell (cello) and Steven Taylor (guitar) perform on Nam June Paik’s TV special for PBS “Good Morning Mr. Orwell” from 1984.
Hierbei handelt es sich übrigens um die erste von Sateliten übertragene TV-Installation vom Videopionier Nam Jun Paik – und da wird es schon wieder ganz schön komplex.
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«Einfachheit – Simplicity» ist das Thema der Masterkurse «Digitale Bildwelten» (Fotografie/Video) und «Vom geschlossenen zum offenen Bild» (Objekt/Installation) am Institut für Kunstpädagogik im Wintersemester 2012/13
Wir wollen in unserem Projekt einen Schritt beiseite treten – heraus aus der Komplexität des Alltags, seiner medialen Verlockungen und den technischen Möglichkeiten – und erforschen, in wie weit der Gedanke der »Einfachheit« in der künstlerischen und kunstpädagogischen Arbeit eine uns helfende Strategie sein kann, um die Bewältigung anstehender gesellschaftlicher Herausforderungen und das soziale Miteinander zu unterstützen.
»Einfachheit« beziehen wir in den künstlerisch-ästhetischen Übungen auf die thematischen Ansätze, die Techniken und Materialien. Ein Blick zurück auf Werke der Kunst vergangener Epochen ist dabei hilfreich. Wir arbeiten mit »vordigitalen« Arbeitsweisen und Techniken – nutzen aber dort die Vorzüge von »Digitalisierung«, wo sie uns die Arbeit »einfacher« macht.
Kurslektüre:
Maeda, John (2007). Simplicity. Die zehn Gesetze der Einfachheit
(The Laws of Simplicity. Design, Technology, Business, Life. 2006)
Thoreau, Henry David. Walden oder Leben in den Wäldern. (Walden: or, Life in the Woods. 1854)
Greif, Mark (2012). Thoreau Trailer Park, 2012. In: Edition 4, Berliner Festspiele 2012